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Das Schweizer Schulsystem: Einflüsse aus der Helvetik und der Französischen Revolution

08.08.2024

Die Idee einer obligatorischen Volksschule gab es in der Schweiz bereits lange vor der Totalrevision der Bundesverfassung 1874. Wegweisend dafür war das ambitionierte Bildungsprogramm von Philipp Albert Stapfer, Minister der Wissenschaften und Künste in der helvetischen Republik.

Philipp Albert Stapfer Buch Ein Lebens- und Kulturbild von Rudolf Luginbühl (Verlag von R. Reich 1902)
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Die Helvetische Republik bildete nach Einmarsch der französischen Truppen 1798 einen Einheitsstaat nach demokratischen Prinzipien und nach dem Vorbild Frankreichs. Dass dieser Staat einen grossen Wert auf Erziehung und Unterricht legte, widerspiegelte sich bereits im Finanzplan. Für das Erziehungswesen, als zweitgrösstem Posten hinter dem Kriegswesen, waren zwei Millionen Schweizer Franken vorgesehen. In der Helvetischen Verfassung fanden Erziehung und Unterricht zwar keine Erwähnung, die pädagogischen Ziele und Absichten der Regierung waren jedoch im sogenannten Konstitutionskatechismus festgehalten. Darin wird dem Unterricht als Voraussetzung für die Verrichtung öffentlicher Ämter, deren Zugang in der neuen Ordnung allen Bürgern offensteht, ein eigenes Kapitel gewidmet.

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Erklärung der helvetischen Konstitution in Fragen und Antworten: Siebenzehntes Kapitel. Von dem öffentlichen Unterricht (Bildnachweis: ETH-Bibliothek Zürich)

Das Konzept öffentlicher Schulen und Öffentlichkeit in der Demokratie

Als sehr ehrgeizig erwiesen sich der Entwurf für ein nationales Bildungsgesetz und der noch ambitiösere bildungspolitische Plan für ein Bildungssystem. Beides legte Minister Stapfer nach nur fünf Monaten im Amt dem Direktorium, der Exekutive der Helvetischen Republik, vor. Der Einfluss des Konzepts der «instruction publique» aus der Französischen Revolution ist unverkennbar. Noch während seiner Ernennung zum Minister weilte Stapfer nämlich in Paris und erhielt den Auftrag, sich vor seiner Rückkehr nach geeigneten Bildungsprojekten umzusehen. Er entschied sich als Referenzwerk für das Projekt des Mathematikers und Girondisten Marquis de Condorcet[1]. Dieses galt zur Zeit von Stapfers Aufenthalt in Frankreich als richtungsweisend.

Stapfers Gesetzesentwurf mit dem Titel «Projet de loi sur les écoles élémentaires» enthält vier Teile. Der erste Teil handelt von der Umgestaltung der niederen Schulen zu allgemeinen Bürger-, Elementar- oder Primarschulen in Verbindung mit der repräsentativen Demokratie. Der zweite Teil ist den Lehrpersonen gewidmet. Er enthält Regelungen zu deren Lohn und die Zusicherung für ein Haus mit Garten. Der umfassendste Teil bezeichnet den Aufbau, die Inhalte und die Methode des Unterrichts. Darin ist die Organisation des Primarunterrichts in eine Eintrittsklasse, eine mittlere Klasse für 8- bis 13-Jährige und eine berufsvorbereitende Klasse aufgeteilt. Der Fächerkanon enthält diejenigen Inhalte, die notwendig sind, um später die selbstständige Ausübung eines Berufes zu ermöglichen. Über das Lesen und Schreiben hinaus sind dies: neue Sprachen, insbesondere die Landessprachen, naturwissenschaftliche Fächer, Staatskunde, Morallehre und körperliche Übungen. Als Unterrichtsmethode wird auf den Sensualismus[2] gesetzt. Dieser hatte sich in Frankreich als Basis für die Weiterentwicklung der Wissenschaften wie auch als Methode für Erziehung und Unterricht durchgesetzt. Im vierten Teil wurden die Kompetenzen des Staates im Hinblick auf den Unterricht geregelt. 

Theater von Besançon, Coup d'oeil’ (Claude-Nicolas Ledoux, L’architecture, 1804, Taf. 113)
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Theater von Besançon, Coup d'oeil’ (Claude-Nicolas Ledoux, L’architecture, 1804, Taf. 113) , Bildnachweis: Phantasia -  Volume 5 - 2017 : Architecture, espace, aisthesis 

Die sensualistische Methode beruht auf der Erkenntnistheorie im 1754 erschienenen Traité des sensations von Etienne Bonnot de Condillac (1714-1780), worin die Fähigkeiten und Erkenntnisse des Menschen in Relation der unterschiedlichen Sinne zueinander erklärt werden.

Erziehungsräte mit Handlungsfreiheit

Nachdem zuerst das Direktorium und danach sowohl der Grosse Rat als auch der Senat das Gesetz zurechtgestutzt haben – die Gründe hierfür sind nicht vollumfänglich bekannt – wurde es am 2. Januar 1800 endgültig zurückgewiesen. Somit blieb das Schulgesetz, welches 1799 vom Direktorium als temporär beschlossen worden war, in Kraft. Es sollte das Abhalten der Winterschule ermöglichen und die Aufrechterhaltung der bisherigen Schulordnungen gewährleisten, sofern diese der Konstitution nicht widersprachen. Als bedeutsam sollte sich darin die Konstituierung von Aufsichtsgremien für das Erziehungswesen in den Kantonen erweisen: die Erziehungsräte. Als öffentlich-milizmässig geführte Schulverwaltungen oblag ihnen die Weiterentwicklung des Unterrichtswesens sowie die Aufsicht darüber. Eine weitere Aufgabe umfasste die flächendeckende Umfrage über den Zustand der Bildungseinrichtungen: Sie sollten regelmässig Schulinspektoren einsetzen und Bericht erstatten.

Die Erziehungsräte waren von Anfang an mit einem hohen Grad an Autonomie ausgestattet und die durchmischte Zusammensetzung aus weltlichen und geistlichen Vertretern verschaffte ihnen in den Kantonen eine breite Akzeptanz. Ursprünglich zur Stärkung der öffentlichen Mitsprache in Bildungsfragen eingesetzt, wirkten sie schliesslich auch als Verstärker des Bildungsföderalismus.

Obwohl der Gesetzesentwurf von Stapfer nie in Kraft getreten ist, hatten die Erziehungsräte Kenntnis davon. Er wurde in einem an sie gerichteten Schreiben als Beilage angehängt – zusammen mit der Botschaft zur Gesetzesvorlage, welche weit mehr enthielt als der Kommentar zum Gesetz. Sie umfasste ein Konzept, das für die weiteren Entwicklungen in der Schweiz ebenso richtungsweisend war wie der Gesetzesentwurf. Stapfer schlug darin ein national einheitliches, staatlich institutionalisiertes Bildungssystem vor, das allen unabhängig von der Herkunft zugänglich ist. 

Das pyramidenartig aufgebaute Bildungssystem enthielt in seiner Konzeption als erste Stufe den bürgerlichen Unterricht in Elementar- oder Primarschulen in den Gemeinden. Als zweite Stufe des Systems wurde ein gelehrter Unterricht in Gymnasien in den Hauptstädten und als dritte Stufe eine «Centralschule» resp. eine polytechnische Schule für ganz Helvetien konzipiert. In dieser Institution sollten alle drei Kulturen (sic!) der Republik repräsentiert sein. Um die Durchlässigkeit in diesem System nach dem Prinzip der Meritokratie sicherzustellen, war vorgesehen, den talentierten Schülern[3] einen weiterführenden Unterricht zu bezahlen, sofern die Mittel ihrer Eltern nicht ausreichten. Die Kantone sollten daher verpflichtet werden, jährlich fünf Stipendien zu vergeben. In der Botschaft wurde auch die Unterrichtspflicht für Knaben und Mädchen ab dem 6. Lebensjahr und eine Unterrichtsdauer pro Schultag von sechs Stunden im Winter und von vier Stunden im Sommer vorgeschlagen. Ebenso wurde ein Angebotsplan skizziert, wonach die Errichtung je einer Primarschule im Perimeter von jeweils 500 Einwohnerinnen und Einwohnern zu garantieren sei. Und nicht zuletzt wurde die Einsetzung eines Arztes pro Schuldistrikt vorgeschlagen, der die Schulkinder regelmässig zu untersuchen und in Hygiene zu unterrichten habe.

Eine Schulklasse um 1870 im Tessin draussen im Freien mit Pulten
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Ritratto di una scolaresca all’aperto a Roccabella, Bildnachweis: Fondazione Archivio Fotografico Donetta

Der Zustand des Schulwesens – Stapfer-Enquête 1799

Nach Auflösung der Helvetischen Republik sind die Erziehungsräte und ein Netzwerk von Personen[4] geblieben, welche bis weit ins 19. Jahrhundert als Vermittler und Träger des helvetischen Bildungsprogramms gewirkt haben. Erstere haben dabei auch wesentlich zur Föderalisierung des schweizerischen Schulwesens beigetragen. Sie konnten, was den Primarunterricht betrifft, bereits auf einer relativ hohen Schulbesuchsquote aufbauen, wie die Schulumfrage von Stapfer aus dem Jahr 1799 aufzeigt.

Zum Zeitpunkt des provisorisch in Kraft gesetzten Schulgesetzes schrieb Minister Stapfer sämtliche Lehrpersonen an, um sich ein Bild über den Zustand des Schulwesens zu machen. Der Fragebogen enthielt insgesamt über fünfzig Fragen zu Verwaltung und Organisation der Schule, zu den Fächern, den Lehrkräften und die Schülerschaft. Wie die erst kürzlich umfassend ausgewertete Schul-Enquête aufzeigt, waren die Schulen damals gut bis sehr gut besucht, und dies sowohl in katholischen und ländlichen Gegenden und ebenso von beiden Geschlechtern. Dass trotz verankerter Schulpflicht in den lokalen Schulordnungen die Schule unregelmässig besucht wurde, hatte verschiedene Gründe. Ausschlaggebend waren vor allem regionale Faktoren wie lange Schulwege und mangelnde Schulräume oder die ökonomische Lage der Eltern.

Grosse Unterschiede bestanden in den Kantonen beim Schuleintritts- und dem Schulaustrittsalter und der Schulzeit. Letztere beschränkte sich in ländlichen Gemeinden auf eine Winterschule (von Martini bis Ostern). Gemäss den Antworten in der Stapfer-Enquête waren Sommerschulen nur in Zürich, Basel, Bern, Thurgau, Schaffhausen, Freiburg und in der Waadt verbreitet. Gebräuchlich waren bei Schulaustritt Examen, in denen mindestens die Lesefertigkeit unter Beweis gestellt werden musste. Die Rücklaufquote der Schul-Enquête war überwältigend. Von den 2900 zu erwartenden Antwortbögen, die dem Inspektor abzugeben waren, sind heute 2400 überliefert. Zudem machte fast jede fünfte Lehrperson von der Möglichkeit Gebrauch, ein (nicht-standardisiertes) Feedback in Form von Anregungen oder Erläuterungen anzufügen.

Fazit: Flächendeckende, für damalige Verhältnisse und im internationalen Vergleich gut besuchte Primarschulen, die öffentliche Mitsprache in Bildungsfragen durch die eingesetzten, kantonalen Erziehungsräte und lokalen Inspektoren wie auch die in Umlauf gesetzten bildungspolitischen Bestrebungen der Helvetik, entfalteten ihre begünstigende Wirkung weit über die Helvetik hinaus bis zum Verfassungsartikel von 1874.

[1] Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794)

[2] Die sensualistische Methode beruht auf der Erkenntnistheorie im 1754 erschienenen Traité des sensations von Etienne Bonnot de Condillac (1714-1780), worin die Fähigkeiten und Erkenntnisse des Menschen in Relation der unterschiedlichen Sinne zueinander erklärt werden.

[3] Ob dies nur für Knaben vorgesehen war, lässt sich aus den Quellen nicht hinreichend bestimmen.

[4] Allen voran: Paul Usteri, Redaktor der Zeitung der Schweizer Republikaner, Albrecht Rengger, Hans Conrad Escher, Frédéric-César de La Harpe.

Quellen:

Baczko, Bronislaw: Une Education pour la Démocratie. Textes et projets de l'Epoque révolutionnaire. 2ème édition, corrigé et revue. Genève: 2000.

Bütikofer Anna: Das Projekt einer nationalen Schulgesetzgebung in der Helvetischen Republik (1798-1803). In: Criblez, Lucien (Hrsg.): Bildungsraum Schweiz. Historische Entwicklung und aktuelle Herausforderungen. Bern: Haupt: 2008 (S. 33-56).

Bütikofer, Anna: Staat und Wissen. Ursprünge des modernen schweizerischen Bildungswesens im Diskurs der Helvetischen Republik. Haupt, Bern: 2006.

Erklärung der Helvetischen Konstitution in Fragen und Antworten: 1798. https://www.e-rara.ch/zut/content/structure/8428501

Fuchs, Markus: Die gesetzlichen Grundlagen des niederen Schulwesens in der Helvetischen Republik im Vorfeld der Schul-Enquête. In: Tröhler, Daniel (Hrsg.): Volksschule um 1800. Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt: 2014 (S. 75-88). 

Luginbühl, Rudolf: Philipp Albert Stapfer, helvetischer Minister der Künste und der Wissenschaften (1766-1849). Basel: E. Detloff's Buchhandlung, 1887.

Osterwalder, Fritz: Der Helvetische Bildungsplan – eine kühne Strategie oder ein schwieriger Kompromiss? In: Tröhler, Daniel (Hrsg.): Volksschule um 1800. Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt: 2014 (S. 231-248).

Projet de loi sur les écoles élémentaires. In: Luginbühl, Rudolf: Philipp Albert Stapfer, helvetischer Minister der Künste und der Wissenschaften (1766-1849). Basel, E. Detloff's Buchhandlung 1887, S. 526-536.

Ruloff, Michael Christian: Konkurrenz, Eifersucht und Schulbesuch um 1800. In: Tröhler, Daniel (Hrsg.): Schule, Lehrerschaft und Bildungspolitik um 1800. Neue Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête von 1799. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt: 2016 (S. 49-60).

Ruloff, Michael Christian: Schule und Gesellschaft um 1800. Der Schulbesuch in der Helvetischen Republik. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt: 2017.

Stapfer-Enquête: https://www.stapferenquete.ch

Tröhler, Daniel: Die bildungsgeschichtliche Relevanz der Stapfer-Enquête. In: Tröhler, Daniel (Hrsg.): Schule, Lehrerschaft und Bildungspolitik um 1800. Neue Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête von 1799. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt: 2016 (S. 7-14).


Artikelserie 150 Jahre obligatorische Schulpflicht


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Ergänzend zu dieser Reihe bietet das Informations- und Dokumentationszentrum IDES, in Zusammenarbeit mit dem «Institut de recherche et de documentation pédagogique (IRDP)» der CIIP, die dieses Jahr ebenfalls ihr 150-jähriges Bestehen feiert, eine thematische Sammlung an.

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