Gastautor*: Romain Lanners, Leiter der Fachagentur Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik SZH
Die Schweiz ist 2014 der UNO-BRK beigetreten: Wo steht die Schweiz heute? Diese und weitere Fragen beantwortet Romain Lanners.
Nach dem ersten Blogbeitrag zum UNO-BRK-Staatenberichtsverfahren, gehe ich heute auf die Empfehlungen, die sogenannten «Concluding Observations» des UNO-BRK-Ausschusses ein. Dabei spreche ich kurz über die wichtigen Entwicklungen in der Schweiz, um dann die Empfehlungen der UNO im hiesigen Kontext zu beleuchten.
Sechzigjährige Tradition der Sonderschulen
Vor zwei Jahren haben wir das 60jährige Bestehen der Invaliden-Versicherung (IV) gefeiert. Deren Einführung hat den Bau der Sonderschulen stark gefördert, denn bis 1960 gab es nur wenige Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung. Damals war die separative Sonderschule aus Sicht der Experten das beste Modell. So sind in den letzten Jahrzehnten zwei gut funktionierende, aber parallele Systeme entstanden: die Regelschulen unter Aufsicht der Kantone und die Sonderschulen unter der Verantwortung des Bundes. In den siebziger Jahren wurde die Integrationsbewegung geboren und hat progressiv an Fahrt aufgenommen. Das dominante defizitorientierte medizinische Modell wurde in ein Modell des rechtlichen Anspruchs der Partizipation am gesellschaftlichen Leben weiterentwickelt.
Mit der Kantonalisierung der Sonderpädagogik im Rahmen der NFA wurden 2007 aus invaliden Minderjährigen Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf. Dieser Paradigmenwechsel förderte nachhaltig die inklusive Bildung: Seit 2005 ist so die Anzahl Schülerinnen und Schüler in Sonderklassen oder Sonderschulen um 40 % gesunken, von 50 000 auf knapp 30 000 Lernende. Ein schneller Wandel.
Die Einschätzungen des UNO-BRK-Ausschusses
Die UNO-BRK umfasst 50 Artikel zur rechtlichen Gleichstellung und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit einer Beeinträchtigung, dazu gehört auch der Bildungsartikel (Art. 24). Nach der Auswertung des Initialstaatenberichts der Schweiz (2016), der zwei Schattenberichte der Zivilgesellschaft (2017, 2022) und der Anhörung der Schweiz Anfang März 2022 hat der UNO-BRK-Ausschuss seine «Concluding Observations» publiziert. Mit den würdigenden und fordernden «abschliessenden Bemerkungen» wirft der UNO-BRK-Ausschuss einen konstruktiv-kritischen Blick auf die aktuelle Situation in der Schweiz und formuliert programmatische Empfehlungen zur weiteren Umsetzung der Konvention.
Allgemein wird die defizitorientierte Terminologie mit ihren herabwürdigen Begriffe, wie «Invalide» oder «Hilfslose» kritisiert. Die Bildung hat sich bereits 2007 von diesem medizinischen Modell losgelöst, auch wenn heute noch die eine oder andere sonderpädagogische Fachperson gerne von ihren «Patientinnen» oder «Patienten» spricht.
In Bezug auf den Bildungsartikel zeigt sich der Ausschuss besorgt über die hohe Zahl Schülerinnen und Schülern in separativen Bildungseinrichtungen sowie über den Mangel an notwendigen Ressourcen in den Regelschulen. Ausserdem bemängelt er die Hindernisse beim Zugang zur Berufs- und Hochschulbildung für Lernende mit einer Behinderung, insbesondere für Studierende mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten.
Zu den fehlenden Ressourcen werden beispielshaft der gebärdenunterstützte Unterricht für gehörlose Lernende, der Nachteilsausgleich und die Ausbildung der Lehrpersonen im Bereich Differenzierung und besondere Bildungsbedürfnisse gezählt.
Bei den Empfehlungen zur bindenden Umsetzungsstrategie wird auf den Transfer der vorhandenen Ressourcen von den Sonder- zu den Regelschulen, auf die Wichtigkeit des Nachteilsausgleichs sowie auf die bessere Ausbildung der Lehrpersonen in universeller Pädagogik hingewiesen. In all diesen Bereichen gibt es seit 2016 (also seit der Publikation des Initialstaatenberichts) wichtige Fortschritte. So beinhaltet zum Beispiel das neue EDK Anerkennungsreglement für die Ausbildungen der Lehrpersonen Module zur universellen Pädagogik (wie besondere Bildungsbedürfnisse und Differenzierung im Unterricht) und der Nachteilsausgleich wird bereits heute besser auf allen Bildungsstufen umgesetzt.
Fazit: Die Geschwindigkeit der inklusiven Transformation ist relativ
Für die einen, z.B. die Eltern oder den UNO-BRK-Ausschuss, verläuft die inklusive Transformation zu langsam und für die anderen, z.B. die Lehrpersonen oder die Bildungsverantwortlichen, zu schnell. Es gilt, das richtige und für alle tragbare und zumutbare Tempo zu finden. Dies besonders in Ländern mit einer langen heilpädagogischen Tradition, wie der Schweiz. Es ist immer einfacher ein neues System aufzubauen, als ein «altes» System mit einer langen Tradition umzuwandeln.
Der Bildungsartikel ist heute sicher nicht der bad boy bei der Umsetzung der UNO-BRK in der Schweiz. Aber, wie in allen anderen Bereichen, ist die Bildung ein wichtiger Motor für die Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungen.
Im nächsten Blogbeitrag Anfang 2023 schauen wir in die Zukunft. Welche möglichen Schritte sind aus der Sicht der Kantone bei der Umsetzung des UNO-BRK-Bildungsartikels sinnvoll und machbar?